Ich betrachte mich nicht als spirituellen Menschen. Eigentlich habe ich die besten Voraussetzungen, um eine ausgewogene spirituelle Praxis zu entwickeln: Ich lebe in einem Land, in dem im Wesentlichen Frieden herrscht. Ich bin gesund, leide nicht an Hungersnot, habe erfüllende Arbeit und viele liebe Menschen um mich herum. Meine Stadt, obwohl herausfordernd, bietet eine unerschöpfliche Vielfalt in fast allen Lebensbereichen – auch im Bereich der spirituellen Praxis. Die Auswahl reicht von ZEN-Meditationsgruppen, buddhistischen Zentren, über Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg, unzählige Yogastudios bis unterschiedliche psychotherapeutische Ansätze. Nicht ohne Bedeutung ist, dass das laute und schnelle Leben in einer Stadt wie Berlin einer solchen Unterstützung dringend bedarf. Die große Nachfrage macht es im Moment sehr deutlich.
Und dennoch habe ich oft das Gefühl, immer wieder aus dem Gleichgewicht zu geraten, oder gar in einem Zyklus von Reiz-Reaktions-Muster festzustecken, voller Emotionen und Spannungen zu sein. Dabei habe ich doch ein wunderbares Werkzeug, das Yoga stets parat hält: die Praxis von Svadyaya, Selbststudie.
Yoga Beyond Asanas: Die Essenz der Tradition
Bevor ich mich in die Bedeutung von Svadyaya vertiefe, möchte ich noch mal erinnern: Yoga ist zwar für alle gut, aber nicht jeder kann alle Teile davon praktizieren. Unter uns leben Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Menschen mit eingeschränkter oder völliger Bewegungsunfähigkeit. Die Asanapraxis, also der physische Teil, ist jedoch nur einer der acht Glieder des Yoga, genannt Asthanga*.
Zunächst ist es nützlich zu wissen, dass körperliche Übungen in der Yogapraxis, wie sie sich im letzten Jahrhundert, vor allem im Westen, entwickelt hat, keine so große Rolle gespielt haben. Die frühesten Texte über Yoga erwähnten 2, dann 10, dann 32 und schließlich, im letzten Jahrhundert, 84 Körperhaltungen und mehr. Die dynamische Form des Yoga, Ashtanga genannt, wurde durch Patabi Jois, einen der Schüler des Vaters des modernen Yoga, Krishnamacharya, bekannt.
Dennoch war sowohl früher als auch später der Hauptzweck der Asana-Praxis lediglich die Vorbereitung des Körpers auf die Meditation im Lotus (Padmasana), in regungslosen und stabilen Sitz-Haltung. Nicht mehr und nicht weniger. Das Ziel der Yogapraxis war das vollständige Aufhören der Bewegungen des Geistes und schließlich das Samadhi, der Zustand der Erleuchtung.
Diese acht Glieder des Yoga, bekannt als Ashtanga (Ashta beudeutet in Sanskrit acht und Anga Glied), sollen helfen, diesen Zustand zu erreichen.
Was praktizierst Du eigentlich?
Vielleicht wird es Dir jetzt plötzlich klar, dass Du möglicherweise nicht wirklich Yoga praktizierst, sondern lediglich eine Reihe von Übungen mit skurrilen Namen übst und es ist Dir vielleicht sogar herzlich egal, ob das, was Du jetzt für Deine Gesundheit machst, den Markenstempel “Yoga“ trägt oder nicht.
Selbstverständlich muss nicht jeder etwas praktizieren, worauf er keine Lust hat. Möglicherweise ziehst Du es vor, keine Mantras in Sanskrit zu rezitieren, das "Yoga Sutra" oder andere alte Schriften zu studieren oder Deinen Geist eine halbe Stunde oder länger auf Deine Atmung zu fokussieren. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken, warum diese Praxis entwickelt wurde, welche Wirkung sie haben sollte und immer noch haben kann, und worin ihre Einzigartigkeit besteht. Welchen Nutzen kann sie über die rein körperlichen Aspekte hinaus für Dich bringen?
Authentische Yogapraxis: Verständnis der kulturellen Basis
Zu einem, Du verwendest etwas, das eine sehr lange und tiefe Tradition hat, die in einer anderen Kultur verwurzelt ist. Die Yogapraxis wurde über Tausende von Jahren entwickelt, und ihre Anwendung erfordert ein Verständnis für ihren ursprünglichen Zweck und Kontext. Aus Respekt vor den Schöpfern dieser Praxis ist es wichtig, die Wurzeln zu kennen, aus denen die Inspiration geschöpft wird. So kannst Du Dich der Praxis mit vollem Bewusstsein nähern, verstehen, was übernommen wird und warum, was im Moment nicht von Interesse ist oder was sogar abgelehnt wird. Auf diese Weise kannst Du authentischer und umfassender von dem Reichtum profitieren, den Yoga bieten kann.
Zu anderem, vielleicht fragst Du Dich, warum die hochgelobte Wirkung von Yoga bei Dir eher bescheiden ausfällt oder die Entwicklung stagniert. Vielleicht ist es Zeit, das zu überdenken, was Du von Anfang an gestrichen oder übersehen hast. Ein genauer Blick auf Deine Yogapraxis könnte sich lohnen, um sie mit Dingen zu ergänzen, die Dir früher fremd erschienen.
Yoga Sutra und die Bedeutung der Acht Glieder des Yoga
Es sind in der bereits erwähnten Sammlung von 195 prägnanten Aphorismen niedergeschrieben, die als Yoga Sutra bekannt sind. Dies ist die wichtigste Quelle für versierte Yoga-Praktizierende. Etwa 200 Jahre vor Christus hat Patanjali, ein Sanskrit-Grammatiker und indischer Philosoph, sie gesammelt und in schriftlicher Form festgehalten.
Die konsequente Praxis aller Glieder kann zu der oben erwähnten Erleuchtung führen. Dabei ist der Weg selbst genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, als das Ziel selbst.
Natürlich ist es auch möglich, Erleuchtung spontan zu erfahren, ohne vorherige Ashtanga-Praxis, aber das ist äußerst selten. Eine solche Erfahrung beschreibt der spirituelle, nicht geistlicher Lehrer Eckhart Tolle in seinem Buch Jetzt! Die Kraft der Gegenwart.
Hier sind diese Acht Glieder des Yoga, also Asthanga:
JAMA SADHANA - fünf soziale Praktiken, darunter:
Ahimsa - Nicht-Verletzen
Satya - Wahrheit
Asteya – Nicht-Stehlen
Brahmacharya - Enthaltsamkeit**
Aparigraha - Nicht-Besitz***
NIJAMA SADHANA - 5 innere Praktiken, darunter:
Sauca - Reinheit****
Santos - Genügsamkeit
Tapas - Mäßigung
Svadhyaya - Selbsterkenntnis
Svarapranidhana - Hingabe an das Absolute
ASANA - körperliche Übung
PRANAYAMA - Atemübungen, die helfen, Körper und Geist zu vereinen
PRATYAHARA - Rückzug der Sinne nach innen - der erste Schritt zur Meditation.
DHARANA - Einseitige Aufmerksamkeit - der zweite Schritt zur Meditation
DHYANA - Meditation
SAMADHI - Erleuchtung
Svadyaya, Selbststudie in der Yogapsychologie
Svadyaya, Selbststudie oder Selbsterkenntnis, ist vierte der fünf Nijama Sadhana, oder innere Praktiken. Die Jama und Nijama, wie sie abgekürzt werden, sind nichts anderes als zehn Gebote für den Yoga-Praktizierenden.
Svadhyaya bedeutet in Sanskrit wörtlich, das eigene (sva) Studium (adhyaya) zu üben. Traditionell wurde dieser Begriff hauptsächlich für die Auseinandersetzung mit den Veden und anderen heiligen Schriften verwendet. Jedoch umfasst Svadhyaya auch die Praxis der Selbstreflexion, bei der wir uns bemühen, unser eigenes Wesen zu erkennen.
Wie konkret soll man Svadyaya praktizieren?
In der Selbststudie geht es sicher nicht um Selbstmitleid, Grübeln und Schwelgen in Erinnerungen über vergangenes Unrecht. Es geht auch nicht um Nähren der Schuldgefühle und Vertiefen der Reue. Dieses Konzept ist dem Yoga völlig fremd. Svadhyaya ist therapeutische Beobachtungsarbeit an der eigenen Einstellung zur Welt und zu sich selbst. Das Ziel dieser Arbeit ist es, durch Akzeptanz loslassen zu können.
Paulina Młynarska drückt es in ihrem Buch "Mein linkes Yoga" so aus: "Wenn wir uns wirklich auf eine spirituelle, meditative Praxis einlassen wollen, und nicht wollen, dass Yoga zu einem weiteren momentanen Zeitvertreib wird, nach dem uns einige nette Erinnerungen und ein paar Lycra-Leggins in unteren Schublade des Kleiderschranks bleiben, wenn wir wollen, dass etwas wirklich Wertvolles dabei herauskommt, müssen wir uns - Entschuldigung, ich werde jetzt direkt, aber ich wiederhole es nach meinen Meistern - auf unserem Hintern setzen und überlegen: Wer bin ich denn überhaupt? Was repräsentiere ich eigentlich? Was sind meine Werte? Was sind meine Leitbilder? Worauf habe ich mich eingelassen? Richte ich meine verschlungenen Pfade gerade aus? Oder "kontrolliere" ich ständig das Verhalten und die Einstellungen der anderen? Bin ich in der Lage, mich selbst mit Abstand zu betrachten und mit Mitgefühl und Selbstliebe all die schwierigen Dinge zu sehen, die auf der anderen Seite des Spiegels liegen? Habe ich die Bereitschaft in mir, in meine Schatten einzutauchen? Und ganz wichtig: Bin ich mir selbst gegenüber ehrlich?"
Indem Du also Svadhyaya praktizierst, lernst Du Dich selbst zu betrachten, ohne zu urteilen, ohne zu belehren, sondern mit Distanz und mit Mitgefühl für einen selber und für die anderen Wesen.
Das Schönste, was Dir dabei passieren kann, ist, neben Dir zu stehen, Dich anzuschauen und zu lachen.
Svadyaya in der Asana Praxis
Wenn Du nicht kontemplieren möchtest, füge einfach Deiner Asanapraxis ganz am Anfang, wenn Du Deine Sinne auf die Praxis vorbereitest und beginnst, bewusster zu atmen, eine wichtige Frage oder Intention hinzu (in Sanskrit Sankalpa). Formuliere es so kurz und einfach wie nur möglich.
Falls Du alleine praktizierst und es Dir schwerfällt, diese Intention kontinuierlich im Auge zu behalten, versuche es mit einem Timer und stelle ein angenehmes Signal in Deinem Handy ein. Dieser erinnert Dich während der Praxis regelmäßig an die Frage oder Intention.
Du kannst Dir auch vornehmen, dass Du immer, wenn eine Asana gerade anstrengend ist, an diese Frage/Intention denkst. Diesen Ansatz kannst Du sowohl alleine als auch in der Gruppe anwenden. Manche Lehrer sagen dies zu Beginn der Session an und erinnern die Gruppe während der Praxis regelmäßig daran.
Auf diese Weise bereicherst Du Deine Praxis um einen zusätzlichen Fokus und Sinn. Probiere es einfach aus und beobachte, wie sich Deine Praxis dadurch verändert.
Und hier empfehle ich Dir Meditation mit Affirmation einer Qualität, die Dich darauf vorbereitet, Svadyaya zu studieren.
Falls Du Deine Praxis um Mantra-Singen ausweiten möchtest, höre Dir das folgende Sarasvati Mantra an. Es wird traditionellerweise 108-mal rezitiert oder gesungen – es soll die Kraft hervorrufen, die Erkenntnis schenkt.
*Nicht zu verwechseln mit der dynamischen Asana-Praxis unter dem gleichen Namen, entwickelt von Patabi Jois.
** Verstanden als Nicht-Verschwenden der Energie für Nichtigkeiten, aber auch als tadelloses Verhalten und Nicht-Verletzen im Sexualleben
*** Auch verstanden als Freiheit von Gier
**** Verstanden als Reinheit des Körpers und der Umgebung, in der er funktioniert. Hinweis: Es geht hier nicht um Reinheit im katholischen Sinne, d.h. in Sinne von sexuellen Enthaltsamkeit
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