Die Kunst des Begleitens und Korrigierens
Zu Beginn meiner Yogapraxis habe ich einige seltsame und manchmal sogar schreckliche Dinge in Yogastunden im Bereich Assist und Adjustment beobachtet, erlebt und zugelassen.
Heute würde ich dies aus meiner Erfahrung als ein perfektes Beispiel für sensorische Fehlanpassung bezeichnen. Das visuelle System sagt: "Der Mann muss kompetent und weise sein, weil er als alter Mann mit weißen Haaren in fast allen Kulturen so sozialisiert wird", aber das propriozeptive System sagt: "Das tut weh". Dennoch glaubt das menschliche Gehirn, dass der visuelle Input zuverlässiger ist als das eigene Gefühl, und viele Menschen folgen den Anweisungen trotz ihrer inneren Warnungen.
Deswegen hoffe ich, dieser Beitrag inspiriert Menschen, die sich in die Welt des Yoga begeben – und nicht nur sie – dazu, Autoritäten zu hinterfragen und einen selbstbestimmten Umgang mit ihrem Körper zu pflegen.
Assist und Adjustment in Yoga haute und damals
Es gibt nur wenige Bilder von T. Krishnamacharya, dem sogenannten Vater des modernen Yoga, wie er Yoga lehrt, und es ist schwer zu sagen, wie sein Unterricht tatsächlich aussah. Aber auf einem der Bilder (das letzte unten) steht er auf dem Körper eines Jungen, der eine volle Variante von Ustrasana, einer intensiven Rückbeuge, macht. Wahrscheinlich sollte das als eine Art Assist funktionieren. Heutzutage wäre so etwas - zumindest im Westen - kaum durchführbar. Erstaunlicherweise wurden solche Korrekturen aber auch im Westen von seinen Schülern praktiziert, vor allem von Patabi Jois (siehe die Bilder unten). Aber nicht nur, auch Bikram Choudhury, ein selbsternannter Yogameister und Gründer von Bikram Yoga (später wegen Diskriminierung, sexueller Belästigung und Vergewaltigung angeklagt) griff gerne auf diese "Technik" zurück. Ich selbst habe noch vor zehn Jahren in Iyengar-Kursen sehr grobe Handgriffe, manchmal sogar Schläge und eine sehr vorwurfsvolle Sprache erlebt.
Es ist aber nicht sicher, seit wann Assist und/oder Adjustment in den Asanas eingeführt wurden und ob sie immer so aussahen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass T. Krishnamacharya auf den Körper des Maharajas von Mysore, seinen Brotgeber, Gönner und Yogaschüler, oder seiner hochrangigen Beamten geklettert ist oder sie auf die Oberschenkel oder das Gesäß geschlagen hat.
Jedenfalls gibt es - gegen den allgemeinen Trend des permaneten Korrigierens - auch heute noch Yogaschulen, in denen der/die Lehrer:in nur beobachtet und verbal anleitet, ohne selbst zu demonstrieren oder körperlich zu korrigieren, ohne den Schüler auch nur zu berühren.
Bewusstheit statt Perfektion
Im Yoga Sutra (Patanjali II v. Chr.) heißt es in II,46: Sthira Sukham Asanam, das heißt: Die Haltung ist stabil und angenehm. Das bedeutet, besonders bei Anstrengung in Balance zwischen Körper, Atem und Geist zu bleiben und schön entspannt zu sein. Um das zu erreichen, muss man immer wieder auf I,2, den zweiten Satz des Yoga Sutra zurückgreifen, wo es heißt: Yogash citta-vritti-nirodhah, also Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes. Beim Yoga geht es also nicht um den Körper, sondern um das Bewusstheit. Es geht nicht um die ideale Ausführung, sondern lediglich um die Vorbereitung des Körpers durch die Asana-Praxis auf das viel wichtigere siebte der acht Glieder des Yoga, die Meditation. Es geht nicht um Perfektion, sondern um das Gleichgewicht im Hier und Jetzt.
Warum solltest Du also etwas mit Deinem Körper machen oder machen lassen, was sich nicht gut anfühlt, was dich eher aus der Balance wirft? Wenn Dir ein Lehrer eine "Weisheit" als traditionell und als einzige Wahrheit präsentiert, hast Du das Recht zu fragen. Yoga hat sich in den letzten 3000 Jahren auch weiterentwickelt. Warum sollte sie sich nicht weiterentwickeln dürfen? Warum nicht jetzt? Und wir leben nicht in einem Wald oder einem Kloster in Indien, also können oder sollten wir vielleicht die Praktiken an unsere Umstände anpassen.
Übrigens macht mir Yoga viel mehr Spaß, wenn ich nicht darüber nachdenken muss, wie die Asanas "auszusehen" haben und wo genau ich meine Füße hinstellen muss. Das erinnert mich zu sehr an die Zeit, als ich professionell Ballett getanzt habe, wo es vor allem darum ging, eine Pose aus ästhetischen Gründen perfekt hinzubekommen. Ich musste meinen Körper so lange trainieren, bis die Lehrerin endlich zufrieden war - oder auch (meistens) nicht. Beim Yoga hingegen geht es, wie gesagt, nicht um äußere Schönheit um jeden Preis, sondern darum, loszulassen, wo man gerade ist.
"Lich auf Yoga" versus Vielfalt und Individualität
Zum Beispiel Tadasana, die Berghaltung.
Es ist kein Geheimnis, dass die meisten traditionellen Yogastellungen nicht wirklich auf die verschiedenen Körpertypen eingehen und manche sogar ignorieren, zum Beispiel den weiblichen Körper mit seinen breiteren Hüften und dem tieferen Becken.* Für viele Frauen, besonders während der Menstruation oder in der Schwangerschaft, sind die zusammengestellten Füße in dieser Stellung nicht nur unangenehm eng, sondern auch ungesund. Ich habe mich entschieden, die Füße so zu stellen, wie es sich für mich richtig anfühlt und nicht so, wie es im Buch „Licht auf Yoga“ ** von B.K.S. Iyengar stehen sollte oder wie es der Lehrer in der Klasse, in der ich gerade bin, ansagt. Und das empfehle ich meinen Schüller:innen immer wieder. Besonders, wenn sie in einer Gruppenklasse teilnehmen.
Für mich ist es wichtig, dass meine Schüler:innen erkennen, dass sie die Einzigen sind, die ihren Körper spüren können und die Autorität über ihn haben. Nur sie allein sind die einzigen und besten Experten für ihren eigenen Körper. Es steht ihnen frei, die Assana zu verändern und anzupassen, wenn sie es brauchen. Die Anpassung kann manchmal auch bedeuten, dass die Übenden eine Asana verlassen, bevor der Lehrer oder Lehrerin sie darauf anspricht, oder dass sie die Körperhaltung überhaupt nicht einnehmen, wenn sie sich für sie nicht richtig anfühlt.
Die Selbstwahrnehmung im Yoga - eine Herausforderung
Aber nicht jeder ist in der Lage, seinem Körper gerecht zu werden.
Einige von uns haben wenig Erfahrung mit Bewegung im Allgemeinen oder nur im Zusammenhang mit irgendeiner Leistung, wie es zum Beispiel oft im Sportunterricht in der Schule der Fall ist. Nicht selten treffe ich auf Schüler:innen, die erst langsam lernen mussten, was ihrem Körper wirklich gut tut: sich weder zu über- noch zu unterfordern, auf den Körper zu hören, ihn zu respektieren und ihm mit Achtsamkeit zu begegnen und vor allem: Grenzen nicht brechen zu wollen, sondern sie erst einmal zu erkennen, zu akzeptieren und dann gegebenenfalls behutsam zu erweitern. Und vor allem: zu unterscheiden zwischen echtem Körperempfinden, wie Schmerz oder Enge, und dem, was vom Kopf gesteuert wird.
Die zwei Grenzen in der Hatha-Yoga: Zwischen dem Diktat des Geistes und der achtsamer Beobachtung
In meinem Beitrag zum Thema Gesichtsyoga, als modische und komerzielle Erscheinung, habe ich bereits kurz zwei Grenzen erwähnt, die ich bei der Yogapraxis zu unterscheiden empfehle:
- Die erste Grenze heißt: "Aha, da spüre ich was!"
- Die zweite Grenze heißt: "Aua, ich will hier raus!
Der ersten "Grenze" oder besser Entdeckung empfehle ich, mit Neugierde zu begegnen. Wenn die Intensität der Empfindung auf einer Skala von 0 bis 10 bei 5/6 liegt, können wir ruhig und mit freundlichem Interesse, Atemzug für Atemzug, beobachten, wie sich diese Empfindung verändert, je länger wir in der Haltung verweilen. Nach paar ruhigen Atemzügen stellen wir sehr wahrscheinlich fest, dass sich der Geist entspannt und der Körper folgt und somit die Grenze verschiebt. Denn obwohl sich viele Blockaden in unserem Körper manifestieren, der wie ein Stressspeicher funktioniert, wird das Ganze natürlich vom Kopf gesteuert. Auf diese Weise kann man lernen, wie viel von dem, was man fühlt, wirklich wahr ist und wie viel nur eine Projektion des Kopfes. Auf diese Weise kann man mit der Zeit sogar einige im Körper gespeicherte Traumata auflösen: Nach einem Unfall, einer Verletzung oder einer Operation bleiben nicht nur sichtbare Spuren am oder im Körper zurück, sondern auch im Kopf. Es kann sein, dass die Wunde längst verheilt ist und die Narbe kaum noch sichtbar ist, aber der Schmerz oder besser die Angst davor hat sich tief in den Kopf eingebrannt. Durch Beobachten, geführt durch tiefes und langes Atmen, kannst du daran arbeiten, diese Angst Schritt für Schritt abzubauen.
Die zweite Grenze soll und darf im Yoga überhaupt nicht interessieren. Ich selbst versuche nicht einmal, mich ihr zu nähern. Und ich bitte meine Schüler:innen immer sehr ehrlich zu sich selbst zu sein: Kann ich noch tief und sanft atmen, habe ich Raum für Beobachtung oder verliert sich mein Geist in Empfindungen. Es gibt nämlich sehr viele Menschen, die sich nur im Schmerz spüren und erst dann zufrieden und erfüllt sind, wenn sie nach der Yogastunde „schön fertig“ sind oder das Gefühl haben, sich „schön dreckig gegeben“ zu haben. Sie quälen ihren Körper und verwechseln das mit Hingabe.
Es gibt aber auch Menschen, die bei der kleinsten Anstrengung in Angst und Schrecken verfallen. Auch das ist meist ein Diktat des Geistes und meist weit von der Wahrheit entfernt. In beiden Extremfällen sind die Atmung und die Beobachtung während der Hatha-Yoga-Praxis viel wichtiger als die Körperhaltung selbst. Hier ist es sehr wichtig, dass die unterrichtende Person immer wieder darauf hinweist, bei der ersten Grenze zu bleiben: niemals einen Krampf zu provozieren oder so weit zu gehen, dass man die Haltung vor Schmerzen sofort verlassen muss.
Respektvolle Begegnung
Das Gleiche bezieht sich auf den/die Lehrer:in.
Wenn die Begegnung mit dem/der Schüler:in mit vollem Respekt und Achtsamkeit geschieht, wird der/die Lehrer:in nicht auf die Idee kommen, den Körper mit Gewalt in eine Schablone der perfekten Haltung zu zwingen. Damit will ich nicht sagen, dass ich generell gegen Hilfestellung bin. Die Frage ist nur, zu welchem Zweck. Wenn es darum geht, Stabilität und Balance zu unterstützen, mehr Raum und Leichtigkeit zu geben, eine neue Seite der Asana zu erfahren, dem Übenden ein Aha-Erlebnis zu verschaffen, dann ist Hilfestellung (in welcher Form auch immer) willkommen. In diesem Sinne ausgeführt, kann Assist eine Wohltat sein, kann sich sogar wie eine Massage anfühlen, unter welcher der/die Schüler:in buchstäblich in der Asana schmilzt. Wenn sie sich aber zu stark, zu leicht, unsicher oder gar unangemessen anfühlt, dann stimmt etwas nicht.
Begleiten versus Korrigieren
Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen Assist (Begleitung) und Adjustement (Korrektur) im Yoga.
In Bezug auf Assist gibt es jedoch - wie ich gelernt habe - zwei Möglichkeiten:
Entweder wird dem/der Schüler:in geholfen loszulassen oder zu aktivieren.
Beide Wege haben das gleiche Ziel, nämlich tiefer in die Asana zu gehen.
In beiden Fällen geht es nicht darum, „Fehler“ zu korrigieren oder gar den Körper durch Krafteinsatz in eine Haltung zu zwingen, die sonst nicht möglich wäre, sondern dem/der Übenden einen neuen Zugang zur Asana zu eröffnen. Durch Assists können die Schüler:innen oft besser verstehen, wie die Asana gemeint ist und können ein besseres Körperbewusstsein erlangen.
Die erste Art der Assist kann durch sanftes Handauflegen, leichtes Streichen mit den Fingern oder sogar durch eine Massage gegeben werden.
Bei der zweiten Art wird ein zusätzlicher Widerstand erzeugt, um durch die gleichzeitige Aktivierung der entsprechenden Muskeln eine intensivere isometrische Dehnung zu erzielen. ***
Adjustement, also Korrektur, dient mehr der Führung der Schüler:innen in die korrekt ausgeführte Asana. Dies geschieht mit Hilfe von „Kurzgriffen”, mit denen die Haltung nachjustiert wird, um sie dem/der Übenden zu verdeutlichen, z.B. Knie über dem Sprunggelenk, Zehen rangezogen, Wirbelsäule gerade, Schulterblätter nach unten etc. Wichtig ist dabei, dass lediglich die Hilfestellungen gemacht werden, die Ausführung der Asana aber dem/der Schüler:in überlassen wird.
Wichtig: Jeder Körper ist anders und es gibt keinen Assist, die für alle gleich gut funktioniert.
Fazit: Lehrer:innen sind immer nur Wegweiser.
Die wahre Lehrerin ist jedoch die Intelligenz deines Körpers.
Deshalb ist eine gute Yogapraxis eine, die es dir ermöglicht, einen Zustand zu erreichen, in dem du an diese angeborene Körper-Geist-Intelligenz, die bereits in dir ist, andocken kannst.
* Darüber kannst mehr unter "Umkehrhaltungen während der Periode" finden.
** "Licht auf Yoga" ist ein 1966 erschienenes Buch von B.K.S. Iyengar, das zuerst auf Englisch veröffentlicht wurde. Es beschreibt mehr als 200 Yogastellungen oder Asanas und ist mit etwa 600 Schwarzweißfotos von Iyengar illustriert, die diese zeigen. Das Buch wurde als "Bibel des modernen Yoga" bezeichnet und seine Darstellung der Asanas als "beispiellos" und "enzyklopädisch". Es wurde in mindestens 23 Sprachen übersetzt und mehr als drei Millionen Mal verkauft.
*** Isometrisches Dehnen ist eine Form des statischen Dehnens, bei der die Kontraktion eines bereits gedehnten Muskels genutzt wird. Das Wort isometrisch bedeutet, dass die Dehnung keine Bewegung beinhaltet und die Länge des Muskels während der Dehnung nicht verändert wird.
Comments