Schaut man sich in den angesagten Yogastudios der Großstädte um, scheint Jivamukti Yoga – eine der modernsten, dynamischsten und zugleich spirituellsten Richtungen – zu einem Trend geworden zu sein, der so allgegenwärtig ist wie Latte Macchiato und Avocado-Toast. Aber was macht diesen Stil so besonders, dass er eine Vielzahl junger Menschen anzieht, und warum nur sie, wenn Yoga für alle da ist?
Die Geburt einer Revolution im Yoga
Die Geschichte von Jivamukti Yoga klingt wie ein moderner, amerikanischer Mythos.
In den 1980er Jahren trafen sich Sharon Gannon und David Life im New Yorker East Village, einem Schmelztiegel der Kreativität und Subkultur.
Sie, eine Musikerin, und er, der Besitzer des Cafés, in dem sie Musik machte, werden ein Paar und reisten gemeinsam nach Indien.
Dort studierten sie, nach eigenen Angaben, bei renommierten Lehrern, darunter Pattabhi Jois, dem Begründer des Ashtanga Yoga. Als sie 1984 Jivamukti Yoga gründeten, vereinten sie das Beste aus den Stilen, die sie kennengelernt hatten: die dynamische Praxis des Ashtanga Yoga und die Spiritualität des Sivananda Yoga, Meditation und Mantra-Gesang.
Die fünf Säulen von Jivamukti Yoga
Jivamukti Yoga ist nicht nur ein Stil, sondern auch eine Philosophie, die aus fünf Säulen besteht:
Ahimsa: Die erste der Yamas, die Gewaltlosigkeit gegenüber sich selbst und allen Lebewesen, steht hier im Mittelpunkt – ein zentrales Prinzip im Hinduismus, Jainismus und Buddhismus. Als Konsequenz daraus folgt der ethische Veganismus. Wer Jivamukti praktiziert, verpflichtet sich, in Harmonie mit allen Lebewesen zu leben.
Bhakti: Hingabe durchdringt jede Praxis, oft unterstützt durch das gemeinsame Singen von Mantras, was die spirituelle Verbindung vertieft.
Nadam: Musik, von esoterisch über klassisch bis modern, begleitet die Praxis und soll eine unterstützende Atmosphäre schaffen.
Shastra: Das Studium klassischer Texte wie der Yogasutras von Patanjali vertieft das Verständnis und die Verbindung zur Yogatradition.
Dhyana: Jede Stunde endet mit einer kurzen Meditation, um den Geist zu beruhigen und das Gelernte zu verinnerlichen.
Die Kombination dieser Elemente soll nicht nur körperliche Fitness schaffen, sondern auch spirituelle Erleuchtung und ethischen Veganismus fördern.
Wie sieht eine Jivamukti-Session aus?
Der/die Jivamukti-Lehrer intoniert zunächst, nicht selten mit Begleitung eines Harmoniums, ein ausgewähltes Mantra, zitiert dann, bezogen auf das Thema des Monats, aus alten Schriften und hält den sogenannten Dharma-Talk. Manchmal wird die körperliche Praxis mit Pranayama eingeleitet oder abgeschlossen.
Während der Asana-Praxis, die zu subjektiv ausgewählter Musik, nicht unbedingt zu deren Rhythmus, stattfindet, gibt der/die Lehrer:in gleichzeitig Anweisungen, zählt die Atemzüge und korrigiert mit den Händen zufällige Praktizierende. Wer keinen Körperkontakt wünscht, kann dies vor der Stunde ankündigen oder ein Schild mit der Aufschrift "No Hands-on" in der Nähe seiner Matte anbringen.
Die Asanas werden in einem dynamischen Vinyasa-Flow ausgeführt, ähnlich wie beim Ashtanga Yoga. Der Unterschied besteht darin, dass der/die Lehrer:in
trotz einiger leicht erkennbarer Regeln und Rahmen die Sequenzen, zwischen denen der sogenannte Vinyasa ausgeführt wird, frei zusammenstellen kann. Bei einigen der länger gehaltenen Haltungen greift der/die Lehrer:in gerne auf das Thema vom Anfang der Stunde zurück.
Am Ende gibt es oft, aber nicht immer, eine Konzentration mit dem Mantra: "let go".
Ich persönlich würde das nicht als Meditation bezeichnen. Es sind lediglich ein paar Minuten in der Stille, um das Erlebte zu verarbeiten und den Geist zu fokussieren.
Jivamukti in der Welt und in Deutschland
Der Stil hat sich recht schnell über die Grenzen der USA hinaus verbreitet. In Deutschland ist der Stil sehr populär, aber in Polen zum Beispiel hat man noch nichts davon gehört. Die erste Jivamukti-Schule in Deutschland, in München, wurde von Patrick Broome eröffnet. Heutzutage gibt es auch in anderen Städten Zentren – in Berlin, vor allem in Kreuzberg, gibt es mehrere Orte, an denen man in Jivamukti Stil praktizieren kann.
Meine Erfahrung mit Jivamukti Yoga
Meine erste Begegnung mit diesem Stil war kein Erfolg. Der Lehrer spielte ziemlich rhythmische und laute Popmusik und schrie gleichzeitig in das Headset. Trotz der hohen Lautstärke forderte er uns auf, mit der Ujjayi-Technik so intensiv zu atmen, dass unser Nachbar auf der Matte uns hören konnte. So gesellte sich zu der Kakophonie noch das laute Schnaufen von etwa 30 Menschen, die wie Sardellen in einer Konservendose nebeneinander gequetscht waren. Statt Ruhe, Stille und Konzentration - wie ich gewohnt war - hatte ich um mich herum Lärm und gepresstes Keuchen.
Glücklicherweise habe ich nach dieser Erfahrung nicht aufgegeben und einige inspirierende, weise und erfahrene Lehrer:innen gefunden, von denen ich gelegentlich Input für meine Praxis erhalte. Ich habe sogar gelernt, laute Musik während der Asana-Praxis zu ignorieren, außer in der abschließenden Entspannungshaltung Shavasana: Um wahrnehmen und beobachten zu können, wie Körper und Geist loslassen, und nicht der Musik und damit einer weiteren Aktivierung des Geistes ausgeliefert zu sein, habe ich immer Ohrstöpsel dabei.
Kritisch sehe ich auch das Korrigieren von zufälligen Personen während einer einzigen Pose, ohne den Körper vorher genau zu beobachten. Da ich wiederholt in eine Position "gedrängt" und mehr als einmal buchstäblich aus einem gerade entwickelten Gleichgewicht gestoßen wurde, lege ich meistens das "no hands-on"- Schild neben meiner Matte.
Es fällt auf, dass die Jivamukti Studios vor allem mit jungen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren gefüllt sind, die einen sehr ähnlichen Körperbau haben. Grauhaarige wie ich oder Menschen, deren Körper etwas aus der Norm fallen, sind eher selten. Das erweckt den Eindruck einer elitären Geschlossenheit, und ich denke, das ist ein großes Problem dieses Stils. Ich kann mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass das Konzept an Oberflächlichkeit leidet. Man findet weder ein tiefes Eintauchen in die alten Schriften, noch eine sinnvolle geleitete Meditation von mindestens einer halben Stunde, noch einen Dharma-Vortrag von einem lebenserfahrenen Menschen, der wirklich etwas zu sagen hat.
Ich bin auch davon überzeugt, dass ein Yogastudio sich auf das Unterrichten von Yoga konzentrieren sollte. Wenn man den Vorraum als ein Jahrmarktstand mit Gadgets, Kleidung und Getränken oder Riegeln nutzt, auch wenn alles nach Weihrauch riecht, dann ähnelt das Studio eher einem Fitnessclub und entweiht die Erfahrung der puren Yogapraxis. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Jivamukti leider nicht wesentlich von anderen westlichen Yogastilen, die durch kulturelle Aneignung gekennzeichnet sind.
Summa Summarum
Was dich erwartet
Eine sehr dynamische und herausfordernde Yogapraxis mit Begleitung von Musik.
Eine Begegnung mit dem Singen von Mantras in Sanskrit und alten Schriften.
Dharma-Vortrag zu einem bestimmten yogisch-philosophischen Thema.
Körperliche Korrektur während der Asana-Praxis.
Shop mit Zubehör, Kleidung und Getränken.
Für wen geeignet
Jüngere, sportliche Menschen.
Alle, die sich intensiv mit Begleitung der Musik bewegen und in dieser Weise dem Zustand des Yoga näher kommen wollen.
Alle, die neugierig und offen für philosophische und spirituelle Ansätze sind.
Menschen, die sich in großen Klassen wohler fühlen als in kleinen Gruppen.
Meine subjektive Empfehlung der Jivamukti Adressen für Berliner:
Peace Yoga, in Kreuzberg bei Martyna, Jules und Huan
Three boons Yoga, bei Rowena und Hildegard
Practice Yoga, bei Sandra und Felicia (immer dezente Musik und ohne Mikroport)
Yogaeasy, online
Fazit
Jivamukti Yoga verspricht, körperliche Fitness mit spiritueller Entwicklung und ethischen Grundsätzen zu verbinden. Wer sich auf diesen Weg begibt, findet nicht nur ein Training, sondern auch eine Gemeinschaft, die eine tiefere Verbindung mit sich selbst und der Welt verspricht.
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