Runen, Nationalsozialismus und Yoga
- Grazyna Kania
- 17. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Apr.

Ich kenne die Bücher von Mathias Tietke – „Yoga im Nationalsozialismus“ und „Yogi Hitler“ – schon lange. Aber ehrlich gesagt habe ich mich bisher nie wirklich aufraffen können, dieses Thema für andere in einem Blogbeitrag aufzuarbeiten. Dies ist nämlich keine Wahrheit, die leicht verdaulich ist oder als überzeugendes Argument für andere dienen kann, Yoga als eine friedliche und manipulationsfreie Praxis zu praktizieren – im Gegenteil. Es ist eine Wahrheit, die verstört, die irritiert, und eben deswegen ist es notwendig, genau hinzuschauen. Denn darüber lernt man in keiner Yogalehrer:innen-Ausbildung; zumindest ich habe davon nicht einmal in einem Nebensatz in all meinen Workshops und Lehrer:innen-Kursen gehört. Aber immer, wenn ich mich mit der Geschichte des Yoga im Westen beschäftige, stoße ich auf diese überraschenden und unbequemen Kapitel. Eines davon ist die Verbindung von Yoga, Runen und Nationalsozialismus. Heute möchte ich – inspiriert von Tietkes Büchern und meiner eigenen Auseinandersetzung – mit euch teilen, was ich darüber gelernt habe und was das für meine, für unsere Praxis bedeutet.
Was ist eigentlich Runen-Gymnastik? Was hat das mit dem Nationalsozialismus und Yoga zu tun?

Bei all der Vielfalt der Schulen, Methoden und Arten gibt es eine, die heutzutage zwar eine absolute Nische ist, hat aber am Anfang des XX Jahrhunders in Deutschland eine bedeutende Rolle gespielt. Es ist Runen-Yoga, manchmal auch Runengymnastik genannt. Die Idee: Man nimmt mit dem Körper die Formen germanischer Runen ein, kombiniert das mit Atemübungen, Sprechgesängen und Visualisierungen. Angeblich soll das die spirituelle Energie schenken, Heilung bringen, die Verbindung zu „kosmischen Kräften“ stärken.
Was mich dabei stutzig macht: Die Gründer dieser Praxis, Männer wie Marby und Kummer, behaupteten, Runen-Yoga sei ur-germanisch – und Yoga aus Indien nur ein Abklatsch davon. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern zeigt, wie leicht Spiritualität vereinnahmt und umgedeutet werden kann. Und ja, die Praxis war von Anfang an rassistisch und ausgrenzend gedacht: Sie sollte nur „nordischen Menschen“ zugutekommen.
Und was passierte nach 1945?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Runen-Yoga von Karl Spiesberger „entpolitisiert“ und als allgemeine Gesundheits- und Lebensreform propagiert. Die rassistischen Elemente verschwanden, geblieben ist eine Mischung aus Esoterik, Körperarbeit und dem Wunsch nach Selbstentwicklung. Heute findet man Runen-Yoga in verschiedenen Szenen – von harmloser Esoterik bis hin zu rechtsextremen Nischen.*
Yoga im Nationalsozialismus: Zwischen Faszination und Vereinnahmung
Yoga war im Nationalsozialismus nicht verboten. Im Gegenteil: Führende NS-Ideologen wie Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg interessierten sich gezielt für Yoga und indische Philosophie – allerdings nur für die Aspekte, die in ihr Weltbild passten, wie Disziplin, Willenskraft und das Ideal des „Kriegers“. Die friedlichen, verbindenden Seiten des Yoga blendeten sie bewusst aus

Besonders Heinrich Himmler, Reichsführer SS, war fasziniert von der Bhagavad Gita, einer zentralen Schrift des Hinduismus. Er trug eine ins Deutsche übersetzte, handliche Ausgabe der Bhagavad Gita stets bei sich und bezog sich regelmäßig auf das vierte Kapitel, das den „Yoga der Erkenntnis“ behandelt. Die dort propagierte Haltung, mit innerer Gelassenheit und ohne persönliche Bindung zu handeln – bis hin zur Rechtfertigung von Töten als pflichtgemäße Tat – diente Himmler als spirituelle Legitimation für seine eigenen Befehle und Gräueltaten. In Gesprächen mit seinem Leibarzt Felix Kersten offenbarte Himmler, dass ihn besonders die Verse beeindruckten, in denen Krishna den Krieger Arjuna von Zweifeln befreit und zur pflichtbewussten, emotionslosen Tat auffordert.
Wissenschaftlich und ideologisch begleitet wurde Himmler unter anderem vom Tübinger Indologen und SS-Hauptsturmführer Jakob Wilhelm Hauer, der Yoga als „indoarische Metaphysik des Kampfes und der Tat“ interpretierte und damit eine Brücke zwischen indischer Philosophie und NS-Ideologie schlug.

Auch der italienische Kulturphilosoph Julius Evola beeinflusste das NS-Spitzenpersonal mit Vorträgen über die „arische Lehre des heiligen Kampfes“ und betonte die Verachtung von Mitleid im Sinne der Bhagavad Gita.
Yogaübungen galten im Dritten Reich als gesundheitsfördernd und wurden im Rahmen der Wehrertüchtigung genutzt. In der Propaganda zeigten Illustrierte Yogis in fortgeschrittenen Asanas, allerdings meist als exotische Kuriosität und Beweis für „Körperkraft“ und Disziplin, nicht als spirituelle Vorbilder.
Im völkischen Milieu wurde Runen-Yoga als „urdeutsche Alternative“ zum indischen Yoga inszeniert, um den „nordischen Menschen“ mit den „Ahnen“ und germanischen Göttern zu verbinden und als rituelle Praxis zur rassischen Aufwertung zu nutzen.
Wer gestaltet Spiritualität?
Die Geschichte von Runen-Yoga und Yoga im Nationalsozialismus wirft für mich als Yogini und Lehrerin ganz grundlegende, feministische Fragen auf:
Wer bestimmt eigentlich, was Spiritualität ist? Wer darf an spirituellen Praktiken teilhaben – und zu welchem Zweck? Wer entscheidet, was „richtige“ Praxis bedeutet? Wer wird ein- und wer ausgeschlossen? Und ganz praktisch: Wie kann ich Yoga so gestalten, dass wirklich alle eingeladen sind – unabhängig von Glauben, Herkunft, Geschlecht, Körper oder Geschichte?

Gerade die Aneignung und Umdeutung von Yoga durch patriarchale, rassistische und nationalistische Strukturen zeigt mir, wie schnell Praktiken, die eigentlich auf Selbstfindung und Heilung ausgerichtet sind, für Machtinteressen missbraucht werden können.
Mathias Tietke mahnt in seinen Büchern immer wieder, diese Geschichte nicht zu verdrängen oder zu verharmlosen. Das ist Wasser auf meine Mühlen: Nur wenn wir uns kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, können wir Yoga heute bewusst, offen und frei von ideologischer Vereinnahmung leben. Für mich ist es zentral, diese Geschichte zu kennen – nicht um mit dem Finger darauf zu zeigen, sondern um meine Praxis verantwortungsvoll und bewusst zu gestalten. Yoga soll ein Raum für Selbstermächtigung, Vielfalt und gegenseitige Unterstützung sein. Das heißt für mich auch, immer wieder zu hinterfragen, woher unsere Traditionen kommen, wie sie sich verändert haben und wie wir sie heute wirklich leben wollen.
Yogapraxis heute: Bewusst, kritisch, empowernd
Dieser Teil der westlichen Yogageschichte ist ein weiteres Beispiel dafür, wie leicht Spiritualität – die eigentlich auf Befreiung vom Leid, Verbindung mit sich selbst, der Umwelt und dem Großen und Ganzen ausgerichtet ist – für politische oder ideologische Zwecke vereinnahmt und umgedeutet werden kann.
Gerade aus feministischer Perspektive ist es wichtig, nicht nur die offensichtlichen Machtstrukturen zu erkennen, sondern auch die subtilen Mechanismen, durch die bestimmte Gruppen ausgeschlossen oder vereinnahmt werden.
Es geht darum, wachsam gegenüber jeder Form von Instrumentalisierung zu bleiben.
Patriarchale, rassistische oder nationalistische Ideologien können sich auch auf viel subtilere Weise einschleichen.
Deshalb ist es für mich essenziell, immer wieder kritisch zu hinterfragen, woher unsere Praktiken stammen, wie sie historisch genutzt oder missbraucht wurden und wie wir sie heute bewusst, offen und verantwortungsvoll gestalten wollen.
Eine respektvolle Yogapraxis bedeutet für mich, Räume zu schaffen, in denen Vielfalt, Selbstbestimmung und gegenseitige Unterstützung möglich sind – und in denen wir gemeinsam Verantwortung für die Geschichte und Zukunft unserer spirituellen Wege übernehmen.
*siehe bei: Wikipedia, Runengymnastik / Runen-Yoga
Karl Spiesberger, „Runenpraxis der Eingeweihten – Runenexerzitien“
Mathias Tietke, „Yogi Hitler. Der Einfluss von Yoga und indischer Philosophie auf die Ideologie des Nationalsozialismus“
Comments